Samstag, 12. September 2015

Durchwachsener Freischütz in der Hamburger Laiszhalle, 12.9.2015

Der Manie, Werke auf Biegen und Brechen verändern zu müssen, entgeht man heutzutage scheinbar nicht einmal, wenn man sich in konzertante Aufführungen rettet. Der Freischütz hat viele Dialoge, und man kann diese in einer konzertanten Aufführung auch weglassen, aber keinesfalls sollten sie durch sinnfreie neue Samiel-Texte ersetzt werden, wie man es in der Hamburger Laiszhalle traurigerweise erleben durfte. Die verschwurbelten Phantastereien aus der Sicht Samiels (!), die als Einlage zwischen den Musiknummern fungieren sollten, trugen weder zum Verständnis noch zur Analyse des romantischen Schauermärchens bei, sie waren nur eins: unsagbar lästig, vor allem so, wie sie von Graham F. Valentine vorgetragen wurden. Vielleicht sollte man umso dankbarer sein, dass der Text der Arien und Ensembles  nicht auch noch umgedichtet worden ist, denn mit dem dürften ja so manche Minderheiten ihre Problemchen haben – zu un-vegan, zu romantisch, zu viril, zu christlich, zu unemanzipiert, zu Jagd-verherrlichend, zu emotional? Wer weiß also, was den respekt-und stilbefreiten Um-und Neudeutern alles so einfällt, wenn sie alte Werke in Ermangelung eigener Kreatitvität als willkommene Spielwiese entdecken?
Über die Qualität des WDR Rundfunkchors, des NDR-Chors und des NDR-Sinfonieorchesters müssen nicht viele Worte verloren werden; Volumen, Frische und hohes Können taten ihr übriges, um den Abend zumindest von dieser Seite her sehr angenehm zu gestalten, was man allerdings von den recht merkwürdigen Tempi, die Thomas Hengelbrock verlangte, nicht sagen kann. Die einzigartige Ouvertüre des Werkes geriet noch hervorragend und ließ auf mehr hoffen, aber diese Hoffnungen wurden dann enttäuscht. Aus dem bäuerlichen Ländler im ersten Akt wurde fast eine Polka, Kaspars Arie – zwar von Dimitry Ivashchenko hervorragend dargeboten – verlor jegliche dämonische Gewalt und verkam zu einem fast komisch anmutenden Wettrennen. Nikolai Schukoff in der Rolle des Max, der seine dramatisches „Nein, länger trag' ich nicht die Qualen“ stimmlich sehr überzeugend vortrug, musste dann doch die Qualen des ihn in den Schlusstakten völlig zudeckenden Orchesters ertragen, was allerdings das Mitleid verdoppelte – nicht nur mit dem unglücklichen Jägerburschen Max, sondern auch mit dem um sein Leben singenden Tenor. Vielleicht war das ja beabsichtigt. Ob die unpassenden Piani im letzten Akt („Schwach war ich, jedoch kein Bösewicht“) nun die eigene Wahl oder Hengelbrocks Idee gewesen sind – sie waren nicht tragfähig, außerdem auch nicht erforderlich und erschwerten zudem die Textverständlichkeit, was in der eigentlich mit guter Akustik ausgestatteten Laiszhalle zu denken gibt.
Im Gegensatz zu den teilweise völlig überhasteten Tempi standen unsinnige Fermaten und Rubati, welche in den Arien der Damen den musikalischen Fluss zuweilen arg ins Stocken brachten. Mit (musikalischer) Romantik hatte das kaum zu tun, eher mit Chaos und dem Fehlen einer klaren interpretatorischen Linie.
Véronique Gens in der Rolle der Agathe hat eine sehr klangschöne Stimme und gestaltete ihre beiden großen Arien differenziert und ansprechend. Allerdings hätte man sich ein strahlenderes H als Abschluss ihrer ersten Arie gewünscht. Christina Landshamer in der Rolle des Ännchen ließ gesanglich keine Wünsche offen, nur auf die zuweilen recht eigenwilligen Kadenzen hätte gern verzichtet werden können. Auch von Franz-Josef Selig hätten man sich einen stimmgewaltigeren Eremiten gewünscht, wenngleich er mit viel Stil und Kultur sang. Miljenko Turks Fürst Ottokar hatte nicht die baritonale Fülle, die man sich von dieser Rolle wünscht; das Timbre des Sängers ist allzu tenoral und passt nicht zu dieser Rolle. Yorck Felix Speer konnte in der kleinen Rolle des Erbförsters Kuno dennoch das Potential seines sehr ansprechenden und klangschönen Basses voll entfalten.
Carl Maria von Webers Meisterwerk, das den Geist der deutschen Romantik unnachahmlich einfängt, ist durch seine Musik kaum totzukriegen. Wenn auch nicht wenige Regisseure dies mit großer Energie auf nahezu allen Bühnen versuchen; im Konzertsaal sollte es allerdings erst recht von jeglichem Modernisierungsmüll verschont bleiben.

Donnerstag, 13. August 2015

Beeindruckender Don Giovanni in Verona

Es ist ja mittlerweile Brauch, dass die Rezensenten fast zwei Drittel ihrer Kritiken für die Inszenierung aufwenden, um die neuesten “Errungenschaften” des Rübenrauschtheaters aka Regietheaters wortreich zu preisen. Dabei handelt es sich wohl kaum um Inszenierungen, die diese Aufmerksamkeit auch nur ansatzweise verdienen. Der Veroneser Don Giovanni in der Inszenierung des Altmeisters Franco Zeffirelli ist allerdings schon eine Menge Aufmerksamkeit wert. Gerade Don Giovanni, der bisher so ziemlich alle nur erdenklichen Regie-Scheußlichkeiten über sich ergehen lassen musste, erhält durch Zeffirelli seine Würde zurück. Ein großartiges Bühnenbild, das einem barocken Palast nachempfunden wurde, aber durch verschiebbare Elemente wandlungsfähig bleibt, bildet die ästhetisch hochwertige Kulisse und gibt der für die Arena eher weniger tauglichen Oper einen prächtigen Hintergrund. Obgleich die Oper im 17. Jahrhundert angesiedelt ist, tut ihr eine Verlegung ins 18.Jahrhundert keinen Abbruch. Erstens hat dies schon in zahlreichen Produktionen vor Zeffirelli stattgefunden, zweitens wurden gerade im 18. Jahrhundert als dem Zeitalter der Aufklärung viele Schauspiele aufgeführt, die mittels des  Don-Juan-Stoffs Libertinage und Hemmungslosigkeit des Adels kritisierten. Drittens ist die Oper so – also wie ein zum Leben erwachtes Genregemälde eines Watteau, Boucher oder Pietro Longhi – auch überaus Arena-tauglich, was unter den gegebenen Umständen sicher nicht ganz unwichtig ist. Die Chorszenen sind an Vielfalt, Farbenreichtum und guter Personenregie kaum zu überbieten; eine stattliche Anzahl von Statisten tut das Übrige, um das quirlige Volkstreiben glaubwürdig darzustellen. Ein wenig stört diese Üppigkeit nur bei der Ankunft Elviras, die Don Giovanni und Leporello nicht allein findet, sondern aus einer Rokokosänfte mitten hinein in eine lebhafte Marktatmosphäre steigt. Dadurch verliert die folgende Szene, in der Masetto und Zerlina von den ausgelassenen Hochzeitsgästen gefeiert werden, ein wenig an Wirkung. Wohltuend ruhig sind die solistischen Szenen gestaltet. Zeffirelli verzichtet bei den musikalisch ohnehin ausreichend anspruchsvollen Arien auf unnötige “Gymnastik”, wie es heute ja gang und gäbe ist, sondern nutzt die Arien als Momente des Innehaltens und der Reflexion der in den Rezitativen vorangebrachten Handlung. Wer das nicht versteht, bezeichnet so etwas schnell als “Langeweile”, aber dann ist auch die Frage, ob man mit so einer Haltung nicht vielleicht doch besser in einen Actionfilm gehen sollte. Die Kostüme von Maurizio Millenotti sind an Detailgenauigkeit, Schönheit und Erlesenheit unerreicht; die originalen Contouchen der Damen sowie die Justeaucorps der Herren scheinen direkt aus einem Modeatelier des 18.Jahrhunderts zu stammen. Sehr treffend sind dann wieder die Bezugnahmen auf das lokale Kolorit, z.B.bei der Mantilla Donna Elviras.
Stefano Montanari dirigierte das souverän spielende Orchester der Arena, allerdings waren seine Tempi teilweise äußerst fragwürdig, besonders in der vorletzten Szene, die ja durch die Erscheinung des Komtur bedrohlich wirken sollte, kam diese Hast gar nicht gut an. Die wunderbare szenische Gestaltung hätte ein viel getrageneres Tempo erforderlich gemacht. Langsam ist sie, die zum Leben erwachte Statue des Komtur, aber ihr Ziel erreicht sie ohnehin, da muss Herr Monatanari nicht noch nachhelfen. Und – ja, es ist heiß. Ja, niemand verlangt, dass der Dirigent in Schlips und Kragen erscheint. Aber Goldkettchen, Lederhose und ein nachthemdähnliches Gewand als Oberteil? Das muss nun wirklich nicht sein, schon gar nicht in diesem Rahmen!!
Die Titelrolle verlangt einen schwarzen, stimmlich gewandten und großvolumigen Bass bzw.Bassbariton. Sicherlich, die Zeiten von Cesare Siepi und Co sind lange vorbei, aber Dalibor Jenis gibt der Rolle nicht das, was sie wirklich verlangt, wenngleich er sie schauspielerisch sehr gut darstellt. Er singt sie, und er singt sie auch schön, aber Don Giovanni ist weit mehr als nur “schön”. Leider wirkt er durch seine eher weiche Stimme viel zu brav, um den Don als den Wüstling darstellen zu können, der er nun einmal ist.
Von Marco Vinco alias Leporello, dem wahrhaft gebeutelten Diener Giovannis, kann man dies noch weniger sagen. Seine Stimme ist für die Arena bei weitem zu klein, vielfach war er kaum zu hören. Ihm fehlt die Durchschlagskraft, und wenngleich der Leporello kein Hunding sein muss, so hat er doch eine große und wichtige Rolle, die ihre stimmliche Entsprechung sucht.
Lyrische Stimmen sind ja schön und gut, aber sie sollten bitte auch in ihren Fächern bleiben und  nicht – wie es heute allzu oft vorkommt – in die dramatischen Rollen schlüpfen. Die Arena ist kein Tonstudio, in dem man aus einem Lüftchen einen Wirbelsturm produzieren kann.
Saimir Pirgu in der Rolle des noblen Don Ottavio war zu Beginn etwas hölzern – sein “Dalla sua pace” geriet etwas angespannt. In den Szenen mit Donna Anna wurde er lockerer, und sein “Il mio tesoro” war ein Hochgenuss mit geläufigen Koloraturen, sehr schönen Piani und müheloser Höhe.
Christian Senn als bedauernswerter Masetto machte seine Sache gut, war jedoch auch ein wenig zu lyrisch.
Die Damengarde konnte mit sehr guten Stimmen aufwarten. Allen voran die unglückliche Elvira alias Daniela Schillaci füllte ihre Rolle hervorragend aus – Zorn, Enttäuschung, Traurigkeit, Angst, Mitleid – all das konnte sie stimmlich und darstellerisch glaubwürdig vermitteln, und das “Mi tradì quell'alma ingrata” war ein Hochgenuss. Dasselbe gilt für Ekaterina Bakanova als Donna Anna. Wer so wunderbar flehen kann, dem bzw. der kann auch kein ungeduldiger Don Ottavio widerstehen. Nach ihrem “Non mi dir” muss er sich kampflos geschlagen geben und jegliche seiner Forderungen zurückstellen.
Natalia Roman war eine spitzbübische Zerlina, und auch sie wusste durch schönen Gesang und viel Charme ihren aufgebrachten zukünftigen Ehegemahl zu beruhigen. “Dieser Sirene kann ich nie widerstehen”, gibt er ehrlich zu, und er wird bestätigt.
Der Commendatore Insung Sim war zu Beginn der Oper ein wenig verhalten, gelangte aber dann in der alles entscheidenden Szene zur Bestform. Schade, dass man seine Stimme durch die überhasteten Tempi des Herrn Maestro nicht genießen konnte. Verdient hätte sie es, und die szenische Gestaltung, die mit all den aus den Gräbern entstiegenen Zombies entfernt an Michael Jacksons “Thriller” erinnert, allemal.

In Verona wurde jedenfalls bewiesen, dass ein “Kostümschinken” wie es von so manch Neunmalklugem, der einfach nur zuviel schlechtes Theater gesehen hat und sich deshalb als "intellektuell" bezeichnet, zuweilen verächtlich bezeichnet wird, packend und bereichernd sein kann. Kunst kommt eben immer noch von Können.

Sonntag, 29. März 2015

Anna Bolena am 24.3.2015 in Zürich
Ich bezweifle, dass Mario del Monaco jemals den Tenorpart in Anna Bolena gesungen hat. Ich habe jedoch keinen Zweifel daran, dass er mit seinem Sohnemann Giancarlo ebenso kurzen Prozess gemacht hätte, wie Henry VIII  mit seiner zweiten Gemahlin Anne Boleyn, wenn er miterlebt hätte, auf welch dämliche bis unprofessionelle Weise dieser bereits im Jahr 2000 in Zürich Donizettis Meisterwerk verunstaltet hat. In einem kerkerartigen Einheitsbühnenbild, das im Übrigen auch im Züricher Roberto Devereux und in der Züricher Maria Stuarda Verwendung fand, sitzt der Chor in Kostümen der Entstehungszeit und kommentiert das Geschehen. Was sich furchtbar intellektuell anhört, ist aber in der Realität nichts anderes, als eine Bankrotterklärung an ein Grundhandwerk, das jeder Regisseur beherrschen sollte: Chorführung. Aber sei`s drum. Mit dem Bühnenbild hätte man ja noch leben können. Bis auf den Baum, der wild durch Annas Gemächer wuchert, waren alle Schauplätze durchaus librettogemäß und atmosphärisch, ja opulent eingerichtet. Was jedoch die Produktion völlig ins Lächerliche zog, waren die stilistisch völlig beliebigen, durcheinander gewürfelten Kostüme, die einer Oper mit klarem historischen Hintergrund, wie es Anna Bolena nun mal ist, jegliche Glaubwürdigkeit nahmen. Henry VIII war einer der interessantesten Monarchen, die je in Europa herrschten und kein Mafiaboss, der mit Spazierstock wedelnd und mit Sonnenbrille auf die Jagd geht. Auch Jane Seymour sah in ihrem roten Kostüm einfach nur lächerlich aus: so mag die Rosalinde aus der Fledermaus aussehen, wenn sie die Feste des Prinzen Orlofski beehrt, aber nicht die Hofdame der Anne Boleyn, ihr purpurner (Hochzeits-) Mantel wirkte wie Eisensteins Bademantel aus selbiger Operette. Der  Hofstaat entsprang eher  einem Kaiserin Sissi-Film und hatte mit der Bolena so viel zu tun wie Astrologie mir Astronomie. Und die Königin? Sie trug ein sehr schönes, aber völlig unpassendes Phantasiekostüm. Aus welcher Epoche sie hinzugebeamt wurde, blieb völlig offen. Nur Klein-Liesbett, die Tochter von Henry und Anne, durfte so auftreten wie man sie kennt: Im roten Renaissance-Kostüm mit Halskrause und roter Perücke. Warum das Kind jedoch ständig wie ein Geist durch die Szenerie tigern und die mit dem König knutschende Giovanna sogar mit dem abgerissen Kopf ihre Puppe bewerfen musste, blieb offen und wirkte bei der sonst eher schauspielerisch zurückhaltenden Produktion einfach nur peinlich.
 Warum man aber dennoch in diese Züricher Vorstellung ging, war das Engagement von Anna Netrebko, die nach ihrem Rollendebut in Wien, die Anna Bolena einige Jahre hatte ruhen lassen  und viel an ihrer Interpretation gefeilt hat. Die Stimme besitzt einerseits die nötige Zartheit, aber gleichwohl auch Höhe und Robustheit, die diese Partie erfordert. Mit wunderbaren Piani, zartenHöhen und perfekten Koloraturen nahm die Primadonna von Anfang an für sich gefangen. Da verzieh man ihr gerne, dass die große Sängerin auf jeden Spitzenschlusston am Ende der Oper verzichtete, der beim Verlassen des Opernhauses sonst häufig noch im Kopf der Besucher nachhallt. Musikalischer Höhepunkt der Oper war so zweifellos das berührende große Duett zwischen Anna und ihrer Rivalin Giovanna, die in der jungen Veronica Simeoni eine fast ebenbürtige Partnerin fand. Simeoni hat einen eher hellen, angenehmen Mezzo, der wunderbar mit dem dunkel-timbrierten Sopran der Netrebko harmonierte. Luca Pisaroni hat einen wunderschönen Bass, der stimmlich keine Wünsche offenliess.  Um dem eiskalten Machtmensch Enrico ein glaubwürdiges Profil zu verleihen, wirkte der Sänger aber über weite Strecken zu jung. Wie sehr hätte man sich gerade diesen Sänger in einem angemessen Kostüm gewünscht. Judith Schmidt überzeugte als Page Smeton mit schlankem Mezzo auf ganzer Linie, während Ismail Jordis Tenor trotz eher dünnem Material mit viel Leidenschaft und schöner Höhe Annas Jugendliebe Lord Percy Charakter verlieh. Das Sängerensemble wurde von Ruben Drole als Lord Rocheford und Yujoong Kim  als Sir Hervey auf hohem Niveau abgerundet. Während der meist in Logen auf der Bühne verbannte Chor von Jürg Hämmerli hervorragend einstudiert war, schlampte das sich mittlerweile aufgeblasen „Philharmonia“ betitelnde Opernhausorchester bereits in der Ouvertüre ganz gewaltig. Dirigent Andrei Yurkevych gelang es – möglichweise vom „Kostümmix“ inspiriert – an diesem Abend nur schwer, zu einer einheitlichen Linie zu finden. Schade, dass Donizettis kunstvolle Instrumentation so vieles von ihrer Wirkung schuldig blieb. Nun denn, sei`s drum. Nach dem völlig austauschbaren Spielplan, den Zürich am Tag nach meinem Besuch veröffentlichte, wird es sicher lange dauern, bis ich da wieder in die Oper gehe. 

Opera head 
 


Mittwoch, 21. Januar 2015

Gestern habe ich London die Premiere von Umberto Giordanos leider viel zu selten gespieltem Andrea Ché nier besucht. Dieses Werk gehört für mich zu den bewegendsten Opern überhaupt, da ist alles dabei was einen zu fesseln vermag. Liebe, Eifersucht, Gewalt, Verrat, aber auch Loyalität und Menschlichkeit - und das vor historischem Hintergrund der französischen Revolution, einer der spannendsten Epochen der Geschichte. David McVicar bringt all das eins zu eins nach dem Libretto auf die Bühne und lässt Giordanos mitreissende Musik für sich sprechen. Robert Jones hat dafür klassizistische Wände nach historischen Architekturstudien gebaut, die in unterschiedlichen Formationen angeordnet, detailliert die unterschiedlichen Schauplätze abbilden: das Schloss des ersten Akts in seiner dekadenten Entrücktheit, ein Café und Strassenzug für den zweiten, das Revolutionstribunal in grausam-realistischer Monumentalität für den dritten, sowie hohe Gefängniswände im vierten Akt. Jenny Tiraminis Kostüme sind ein wahres Fest für die Augen und könnten einem historischen Gemälde entsprungen sein. Der Regisseur nutzt diesen Rahmen um dem Werk zu dienen - nicht mehr und nicht weniger. Genau so soll es meiner Meinung nach sein. Diese Inszenierung könnte man in ihrer Opulenz, Detailliertheit und Menschlichkeit durchaus mit Otto Schenk und seiner berühmten Wiener Inszenierung vergleichen, die nach 30 Jahren immer noch auf dem Spielplan steht, und man kann hoffen, dass diese McVicar Inszenierung ebenso lange erhalten bleibt. Schliesslich werden heutzutage ja viele Neuinszenierungen bereits nach wenigen Aufführungen entsorgt. Jonas Kaufmann hat mich jedoch in der Titelrolle nur eingeschränkt überzeugt. Sein Material ist nach wie vor kraftvoll und schön baritonal eingefärbt. Das ist aber auch alles positive, was ich über diesen Sänger schreiben kann. Die Stimme klingt abgenutzt, undifferenziert und scheint dem Dauerforte verpflichtet. Auch die "kloßige Intonation", die bei Kaufmann schon immer störte, scheint sich eher zu verschlechtern, zusätzlich bahnen sich neuerdings Registerbrüche an. Kaufmann ist ein "Allessinger", und das hört man mittlerweile deutlich. Auch sein Spiel war bei der Premiere kühl und stocksteif - aber solange ihn seine treu ergebenen Fans in alle Vorstellungen hinterher reisen und fast militant bejubeln, wird uns dieser Sänger erhalten bleiben. Aber vielleicht bin ich ja taub. Weshalb der Abend dennoch musikalisch lohnend war, waren Eva-Maria Westbroek als Maddalena und Zeljko Lucic als Gérard. Westbroeks üppiger Sopran nahm mit warmen Bögen von Anfang an gefangen, schöne Höhen und Piani begeisterten rundum. Erschütternd gestaltete die Sängerin das zentrale "La Mamma Morta" und dominierte die Bühne im Schlussduett. Lucic singt den Gérard vielleicht etwas grobschlächtig, aber sein warmer angenehmer Bariton gewinnt im Laufe des Abends, der Sänger gewinnt im dritten grosse, fesselnde Intensität, gerade im Zusammenspiel mit Eva-Maria Westbroek. Von den zahlreichen Nebenrollen müssen vor allem Rosalind Plowright als Contessa di Coigny, Denise Graves als Bersi und Elena Zilio als Madelon positiv erwähnt werden, die ihre kurzen Auftritte zu Ereignissen gestalteten. Nicht dem Niveau des Royal Opera Houses entsprechend war dagegen der dünnstimmige Carlo Bosi als Incroyable. Der Chor sang seinen anspruchsvollen Part auf höchstem Niveau und das Orchester des Royal Opera Houses unter Antonio Pappano spielte rundum grossartig. Der Dirigent fand stets die richtige Balance zwischen sängerfreundlich und spannend, ausserdem waren viele Details wunderbar herausgearbeitet. Am Ende gab es grossen Applaus für die Sänger und das Regieteam. Gerne würde ich diese Inszenierung noch einmal sehen - dann allerdings mit einem anderen Titelhelden !

opera head