Gestern
habe ich London die Premiere von Umberto Giordanos leider viel zu
selten gespieltem Andrea Ché nier besucht. Dieses Werk gehört für mich zu
den bewegendsten Opern überhaupt, da ist alles dabei was einen zu
fesseln vermag. Liebe, Eifersucht, Gewalt, Verrat, aber auch Loyalität
und Menschlichkeit - und das vor historischem Hintergrund der
französischen Revolution, einer der spannendsten Epochen der
Geschichte. David McVicar bringt all das eins zu eins nach dem Libretto
auf die Bühne und lässt Giordanos mitreissende Musik für sich sprechen.
Robert Jones hat dafür klassizistische Wände nach historischen
Architekturstudien gebaut, die in unterschiedlichen Formationen
angeordnet, detailliert die unterschiedlichen Schauplätze abbilden: das
Schloss des ersten Akts in seiner dekadenten Entrücktheit, ein Café und
Strassenzug für den zweiten, das Revolutionstribunal in
grausam-realistischer Monumentalität für den dritten, sowie hohe
Gefängniswände im vierten Akt. Jenny Tiraminis Kostüme sind ein wahres
Fest für die Augen und könnten einem historischen Gemälde entsprungen
sein. Der Regisseur nutzt diesen Rahmen um dem Werk zu dienen - nicht
mehr und nicht weniger. Genau so soll es meiner Meinung nach sein. Diese
Inszenierung könnte man in ihrer Opulenz, Detailliertheit und
Menschlichkeit durchaus mit Otto Schenk und seiner berühmten Wiener
Inszenierung vergleichen, die nach 30 Jahren immer noch auf dem
Spielplan steht, und man kann hoffen, dass diese McVicar
Inszenierung ebenso lange erhalten bleibt. Schliesslich werden
heutzutage ja viele Neuinszenierungen bereits nach wenigen
Aufführungen entsorgt. Jonas Kaufmann hat mich jedoch in der Titelrolle
nur eingeschränkt überzeugt. Sein Material ist nach wie vor kraftvoll
und schön baritonal eingefärbt. Das ist aber auch alles positive, was
ich über diesen Sänger schreiben kann. Die Stimme klingt abgenutzt,
undifferenziert und scheint dem Dauerforte verpflichtet. Auch die
"kloßige Intonation", die bei Kaufmann schon immer störte, scheint sich
eher zu verschlechtern, zusätzlich bahnen sich neuerdings
Registerbrüche an. Kaufmann ist ein "Allessinger", und das hört man
mittlerweile deutlich. Auch sein Spiel war bei der Premiere kühl und
stocksteif - aber solange ihn seine treu ergebenen Fans in alle
Vorstellungen hinterher reisen und fast militant bejubeln, wird uns
dieser Sänger erhalten bleiben. Aber vielleicht bin ich ja taub. Weshalb
der Abend dennoch musikalisch lohnend war, waren Eva-Maria Westbroek
als Maddalena und Zeljko Lucic als Gérard. Westbroeks üppiger Sopran
nahm mit warmen Bögen von Anfang an gefangen, schöne Höhen und Piani
begeisterten rundum. Erschütternd gestaltete die Sängerin das zentrale
"La Mamma Morta" und dominierte die Bühne im Schlussduett. Lucic singt
den Gérard vielleicht etwas grobschlächtig, aber sein warmer angenehmer
Bariton gewinnt im Laufe des Abends, der Sänger gewinnt im dritten
grosse, fesselnde Intensität, gerade im Zusammenspiel mit Eva-Maria
Westbroek. Von den zahlreichen Nebenrollen müssen vor allem Rosalind
Plowright als Contessa di Coigny, Denise Graves als Bersi und Elena
Zilio als Madelon positiv erwähnt werden, die ihre kurzen Auftritte zu
Ereignissen gestalteten. Nicht dem Niveau des Royal Opera Houses
entsprechend war dagegen der dünnstimmige Carlo Bosi als Incroyable. Der
Chor sang seinen anspruchsvollen Part auf höchstem Niveau und das
Orchester des Royal Opera Houses unter Antonio Pappano spielte rundum
grossartig. Der Dirigent fand stets die richtige Balance zwischen
sängerfreundlich und spannend, ausserdem waren viele Details wunderbar
herausgearbeitet. Am Ende gab es grossen Applaus für die Sänger und das
Regieteam. Gerne würde ich diese Inszenierung noch einmal sehen - dann
allerdings mit einem anderen Titelhelden !
opera head