Donnerstag, 26. Mai 2016

Großartige "Roméo et Juliette" in Tel Aviv am 29. April 2016

Anlässlich des 400. Todesjahres von William Shakespeare setzte die Israeli Opera in Tel Aviv in diesem Frühjahr mit Gounods Roméo et Juliette und Verdis Macbeth gleich zwei Opern auf ihren Spielplan, die auf Werken des großen englischen Dramatikers beruhen. Bei meinem Israel-Aufenthalt Ende April hatte ich Gelegenheit, eine Aufführung von Roméo et Juliette zu besuchen und kam in den Genuss einer außergewöhnlichen Vorstellung. Als Regisseur  hatte die Israeli Opera den Intendanten der Monte Carlo Opera, Jean-Louis Grinda, engagiert, welcher der Tel Aviver Oper bereits seit vielen Jahren eng verbunden ist. Grinda vertraute bei seiner einfühlsamen  Regiearbeit ganz auf die Musik Charles Gounods und erreichte mit sparsam eingesetzten Mitteln eine maximale Wirkung. Das Ergebnis war ein äußerst berührender Opernabend, der von Anfang an zu fesseln  vermochte und der von einer keinen Augenblick nachlassenden Spannung  beherrscht wurde. Bühnenbildner Eric Chevalier hat dem Regisseur dazu eine einfache, leicht schräge, von Säulen umrandete Spielfläche  gebaut, die jedoch mit Hilfe von  liebevoll  gemalten Hintergrundprospekten wandlungsfähig blieb. Sie vermittelten gleichermaßen die bis heute erhaltene, von rivalisierenden Adelsgeschlechtern geprägte bedrohliche  Atmosphäre des mittelalterlichen Veronas, als auch die von Gounod insbesondere in den Liebesszenen heraufbeschworene  Romantik. So sorgten die fast realitätsgetreu gemalte Veroneser Piazza dei Signori und der Mondaufgang über den gemalten Zypressen von Juliettes Garten im zweiten Akt für unvergessliche Momente. Carola Volles steuerte  wunderschön ausgearbeitete Kostüme im Stil der italienischen Frührenaissance bei und betonte gerade dadurch die Zeitlosigkeit und Universalität der tragischen Geschichte des wohl berühmtesten Liebespaares der Welt. Dieser wunderbare optische Rahmen mit seiner intelligenten Personenregie ermöglichte es den Sängern am besuchten Abend zu musikalischen Höchstleistungen zu finden. Mit dem usbekischen Tenor Nagmiddin Marlyanov hatte man einen Sänger verpflichtet, der ganz in der Partie des Roméo aufging. Mit seinem schlank geführten, angenehmen Tenor wurde er sowohl den lyrischen, viel Schmelz erfordernden Passagen, als auch den dramatisch-heldischen Momenten seiner Rolle gerecht. Großen Applaus erhielten sein gefühlvoll vorgetragenes "Ah lève-toi, soleil" sowie der mühelos erreichte Spitzenton bei "Je veux la revoir" am Ende des dritten Aktes. Ideal harmonierte Marlyanov mit der Juliette der jungen Israelin Hila Baggio, die mit klarem, silbrig-timbrierten Sopran und makellosen Koloraturen bereits bei "Je veux vivre" begeisterte und deren Interpretation von "Amour, ranime mon courage" zutiefst erschütterte. In den drei Duetten fand das unglückliche Liebespaar zu einer sich kontinuierlich steigernden Intensität, die einer bewegenden Schlussszene kulminierte. Die zahlreichen kleineren Partien hatte die Israeli Opera alle aus ihrem eigenen Ensemble hervorragend besetzt.  Na'ama Goldmann als Roméos Page Stephano begeisterte mit einem köstlich gesungenen Spottlied vor dem Hause der feindlichen Capulets,  ebenso wie  Anat Czarny als Juliettes Amme Getrude. Herausragend präsentierten  sich insbesondere in der Kampfszene des 3. Aktes auch Oded Reich als Mercutio und Yosef Aridan als Tybald. Mit balsamischem Bass gab Yuri Kissin einen empathisch-gütigen Frère Laurent und stellte damit einen Gegenpol zu dem autoritär agierenden Capulet von Noah Brieger dar. Als Herzog von Verona komplettierte Vladimir Braun das hochkarätige Sängerensemble. Der von Ethan Schmeisser einstudierte Chor präsentierte  sich musikalisch und darstellerisch in Bestform, was insbesondere den von Roberto Venturi meisterhaft choreographierten Kampfszenen zugute kam. Am Pult des Israeli Symphony Orchestra Rishon LeZion dirigierte Francesco Cilluffo stets sängerfreundlich und abwechslungsreich, wobei die zarten Streicher- und Harfenklänge zu Beginn des zweiten Aktes besonders gefühlvoll ausgekostet wurden. Wenn man an diesem wunderbaren Abend etwas aussetzen könnte, dann am ehesten, dass man sich entschieden hatte, die den vierten Akt beschließende Hochzeitsszene mit dem Zusammenbruch Juliettes zu streichen. Dies hinterließ eine dramaturgisch etwas ungünstige Lücke vor dem Schlussbild und ließ den vierten Akt zu abrupt enden. Das Publikum zeigte sich am Ende der Vorstellung hellauf begeistert und spendete langanhaltenden rhythmischen Applaus für alle Beteiligten. Insgesamt hat die Israeli Opera mit dieser Produktion eindrucksvoll unter Beweis gestellt, zu welch herausragendem  Niveau sie auch abseits ihrer spektakulären Opernfestivals fähig ist. Bei Tel Aviv-Reisen ist deshalb auch ein Besuch in der Israeli Opera für Opernfreunde sehr  lohnenswert, auch wenn man diese Stadt zunächst nicht unbedingt  mit ihrem Opernhaus in Verbindung bringen mag!